In der Trübsal des Kerkers

Wie wird ein Christ zum Märtyrer?

3. Juli 1944. Im Exekutionsgefängnis Brandenburg-Görgen wird der Bamberger Rechtsanwalt Johann Wilhelm Wölfel enthauptet. Wehrkraftzersetzung hat ihm der sechste Senat des Volksgerichtshofs Potsdam vorgeworfen. Wölfel hatte im Juli 1943 vor Bekannten geäußert, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden könne und Hitler der größte Wortverdreher aller Zeiten sei. Eine Zuhörerin hat ihn daraufhin bei der Gestapo angezeigt.

Wehrkraftzersetzung war nicht automatisch ein Grund für die Todesstrafe. Bei Wölfel war erschwerend dazu gekommen, dass er Führer der katholischen Laienbewegung und Vorsitzender des Ortskartells der katholischen Vereine Bambergs gewesen ist. Die Anklageschrift wies auf seine "Bindungen zu politisch konfessionellen Kreisen" hin, "die eine positive Einstellung zum nationalsozialistischen Reich nicht erkennen ließen".

Starb Wölfel, weil er aus seiner christlichen Überzeugung kein Hehl gemacht hat? Ist Wölfel ein Märtyrer?

In dem zweibändigen Werk "Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20.Jahrhunderts" ist sein Name aufgeführt. Außer ihm stehen dort weitere 704 deutsche Frauen und Männer, die in den letzten 100 Jah-ren wegen ihres Glaubens ermordet worden sind. Der Kölner Prälat Helmut Moll, der das Martyrologium 1999 im Auftrag der Deutschen Bischöfe herausgegeben hat, nennt sie "Glaubenszeugen", weil die Bezeichnung "Märtyrer" traditionell nur für Heilige und Selige gilt. Aber er hat in jedem einzelnen Fall geprüft, ob ihr Tod ebenso als Martyrium gewertet werden kann wie der Tod des ersten Blutzeugen Stephanus oder der vielen frühchristlichen Märtyrer, die der Christenverfolgung zum Opfer gefallen sind.

Den Anstoß zu dem Martyrologium hat vor zehn Jahren Papst Johannes Paul II. gegeben. In seinem Apostolischen Schreiben "Tertio millennio adveniente" (In Erwartung des dritten Jahrtausends) hat er dazu aufgefordert, die Blutzeugen des 20. Jahrhunderts vor dem Vergessen zu bewahren, denn "am Ende des zweiten Jahrtausends ist die Kirche erneut zur Märtyrerkirche geworden." Bis zum Heiligen Jahr 2000 sind die meisten Ortskirchen seiner Aufforderung gefolgt und haben ihre Märtyrer aufgelistet und in kurzen Biographien gewürdigt. Die Zahl ist erschreckend: 16.000 Christen sind im 20.Jahrhundert weltweit den Märtyrertod gestorben, mehr als während der Christenverfolgung in den ersten Jahrhunderten. An der Spitze steht Spanien mit 10.000 Opfern während des blutigen Bürgerkriegs von 1936 bis 1939. Es folgen Mexiko, die Sowjetunion unter Stalin und der Nationalsozialismus.

Die deutschen Märtyrer teilt Helmut Moll in vier Gruppen ein: die Blutzeugen unter Hitlers Terror; die Blutzeugen aus der Zeit des Kommunismus; die so genannten Reinheitsopfer - das sind Frauen, die sich aus religiösen Gründen gegen Vergewaltigung zur Wehr gesetzt haben, zusammen mit einer Reihe von Personen, die getötet wurden, als sie diese Frauen beschützen wollten - sowie die Blutzeugen aus den Missionsgebieten.

Was bedeutet das Martyrium der Glaubenszeugen für die Kirche und wie wird ein Christ zum Märtyrer?

Das II.Vatikanische Konzil wertet in der Liturgiekonstitution "Lumen gentium" (Licht der Völker) Nr.42 das Martyrium, "das den Jünger dem Meister in der freien Annahme des Todes für das Heil der Welt ähnlich macht und ihn im Vergießen des Blutes gleichgestaltet, als außergewöhnliches Geschenk und als höchsten Erweis der Liebe."

Die Kirchenväter von Tertullian bis Ambrosius und Augustinus sehen im Märtyrer den wahrhaftigen Christen, vollendeten Nachahmer Christi, gerechtesten und vollkommensten Menschen, Sieger über Satan und Beisitzer Christi beim Jüngsten Gericht. Sie stellen das Martyrium der Taufe gleich, ja sogar über sie, weil es die Sünde aufhebt und mit Sicherheit das ewige Leben verleiht. Sie beziehen sich dabei auf die Seligpreisungen im Matthäusevsangelium: "Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich" (Mt 5,10) und auf die Offenbarung des Johannes: "Sei treu bis in den Tod, dann werde ich dir den Kranz des Lebens geben" (Offb 2,10).

Das Wort Märtyrer bezeichnet ursprünglich im griechischen Wortstamm den "Zeugen". Im Neuen Testament sind damit zu allererst die Apostel als Zeugen des Lebens und Wirkens Jesu von der Taufe des Johannes bis zu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi gemeint. Erst nach dem Tod der Apostel und Zeitzeugen Jesu wandelt sich langsam die Bedeutung des Wortes. Nun ist nur noch derjenige, der mit seinem Blut Zeugnis für Chris-tus ablegt, ein Märtyrer.

Im Laufe der Kirchengeschichte haben sich Kriterien herausgebildet, die erfüllt sein müssen, um einem verstorbenen Christen das Attribut "Märtyrer" zuzuerkennen. Papst Benedikt XIV. hat sie Mitte des 18. Jahrhunderts in seinem Werk "Über die Seligsprechung der Diener Gottes und die Hei-ligsprechung der Seligen" zusammengefasst. Prälat Helmut Moll hat diese Kriterien auch für die Aufnahme in sein deutsches Martyrologium zum Maßstab genommen.

Als erstes nennt Moll den gewaltsamen Tod. Der Märtyrer darf nicht auf natürliche Weise gestorben sein, sondern durch Einwirkung von Gewalt. Dabei unterscheidet er zwischen aktiver und passiver Gewalt. Gerade das 20. Jahrhundert kennt neben dem Erschießen, Erdrosseln, Erhängen oder Vergasen auch viele Formen der passiven Gewalt. Im KZ mussten Häftlin-ge verhungern oder sie erhielten mit Bakterien verseuchtes Wasser zum Trinken oder sie wurden durch Stehen auf dem Appellplatz so lange ge-quält, bis sie an den Folgen dieser Tortur starben.

Die perfiden Tötungsmethoden unter Hitler oder Stalin haben Papst Paul VI. und den gegenwärtigen Papst veranlasst, das Kriterium des gewaltsa-men Todes noch näher zu präzisieren. Wer beispielsweise "ex aerumnis carceris" (infolge der Trübsal des Kerkers) zu Tode kommt, gilt auch als Blutzeuge. Das heißt, wenn er, wie der selige Karl Leisner, erst einige Monate nach seiner Befreiung aus dem KZ an den Folgen der Lagerhaft stirbt, gilt sein Tod dennoch als Martyrium.

Das zweite Kriterium, das Moll nennt, ist der Hass auf den Glauben auf Seiten der Verfolger. Als Papst Paul VI. 1971 den polnischen Franziskaner Maximilian Kolbe selig sprach, nannte er ihn folgerichtig Bekenner, nicht Märtyrer. Kolbe war ja nicht aus Hass auf den Glauben getötet worden, sondern weil er sich im KZ Auschwitz freiwillig für einen Familienvater geopfert hat, der im Hungerbunker sterben sollte. Der Theologe Karl Rahner hat sich damals gewundert, dass Kolbe nicht als Märtyrer selig gesprochen wurde. Er verwies auf die hl. Maria Goretti, die ja auch nicht aus Hass auf den Glauben umgebracht worden ist, sondern weil sie sich gegen die sexuellen Übergriffe eines jungen Mannes zur Wehr gesetzt hat. Dennoch verehrt die Kirche sie als Märtyrerin. Helmut Moll versucht bei Maria Go-retti zu vermittel

n: "Der Hass auf die Kirche zeigt sich darin, dass das sechste Gebot missbilligt wird."

Schwieriger wird es, den Hass auf den Glauben noch bei den Folterknech-ten in den ehemaligen Diktaturen oder den heutigen Bürgerkriegsländern Lateinamerikas vorzufinden. Ihre Opfer sind meist Christen, die die Option der Kirche für die Armen ernst nehmen und sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Die Täter aber, darauf weist der spanische Theologe José Ignacio Gonzáles Faus hin, waren oder sind Menschen, "die sich als Christen bekannten und, gerade aus der Folterkammer kommend, in ihrer Pfarrkir-che halfen, die Kommunion auszuteilen."

Es wird also immer schwieriger, das Kriterium "Hass auf den Glauben" heute bei den Tätern vorzufinden. So rücken mehr die Motive auf Seiten der Opfer in den Mittelpunkt. Bei Maria Goretti sehen wir das christliche Ideal der Jungfräulichkeit. Bei Maximilian Kolbe ist es die Nächstenliebe, die ihn bewogen hat, für einen anderen in den Tod zu gehen. Johannes Paul II. hat ihm deshalb bei der Heiligsprechung 1982 ausdrücklich das von Karl Rahner geforderte Attribut Märtyrer zuerkannt.

Das gilt auch für die Karmelitin Edith Stein, die der Papst 1987 selig und 1998 heilig gesprochen hat. Sie ist 1944 in Auschwitz vergast worden, weil sie eine geborene Jüdin war. Nach Prälat Moll aber wollte sie selbst ihren Tod als christliches Martyrium gedeutet wissen.

Die Motivation auf der Seite des Opfers weist auf das dritte Kriterium hin, das Moll unter Berufung auf Benedikt XIV. nennt: die Annahme des Willens Gottes trotz Todesbedrohung. Bei Jesus wird dieses Motiv deutlich, wenn er sagt: "Herr, nicht mein Wille geschehe, sondern der deine" und bei Stephanus: "Herr Jesus, nimm meinen Geist auf." Beide bitten schließlich für ihre Verfolger: "Herr, rechne ihnen die Schuld nicht an…" Ein Todgeweihter, der seinen Verfolgern Rache und Vergeltung androhte, wäre kein Märtyrer, weil er Christus nicht ähnlich wäre. Und wenn sich islamistische Selbstmordattentäter, die aus Hass viele Unschuldige in ihren frei gewählten Tod mitreißen, als Märtyrer verstehen, so hat das weder mit der christlichen noch mit der islamischen Auffassung von Martyrium etwas zu tun.

Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts enthält die Namen von zehn Blutzeugen aus dem Erzbistum Bamberg, auf die die vorgenannten Kriterien zutreffen. Außer dem schon genannten Johann Wilhelm Wölfel sind dies Alfred Andreas Heiß, Robert Limpert, Pater Petrus Mangold, Schwester Aloysia Löwenfels, Matthias Kaiser, Pater Matthäus Rascher, Pater Rudolf Lunkenbein, Dr. Johanna Decker und Bruder Kilian Knörl. Erzbischof Ludwig Schick nannte sie "ein leuchtendes Beispiel im Glauben und im Einsatz für eine gerechte und friedliche Welt".

Vorbilder für ein christliches Zeugnis heute

Interview mit Prälat Moll

Herr Prälat Moll, Sie mussten sich überwiegend mit Opfern der Nazidikta-tur und des Kommunismus beschäftigen. Heute gilt vor allem Lateiname-rika als "Land des Martyriums". Würden Sie die vielen Ermordeten und Verschwundenen dort, die getötet wurden, weil sie sich für die Armen und für soziale Gerechtigkeit eingesetzt haben, als Märtyrer bezeichnen?

Den christlichen Ehrentitel "Blutzeuge" kann einer nur bekommen, wenn die Triebkraft für die Nächstenliebe aus der Gottesliebe kam. Es gibt ja viele, die sich für die Armen einsetzen und doch nicht an Gott glauben. Für die Verschwundenen gilt, dass ein Martyrium nur anerkannt werden kann, wenn die Person ein Gesicht hat. Zudem muss der Tod sicher nachgewiesen sein.

Sind alle Frauen, die getötet wurden, weil sie sich gegen eine Vergewaltigung wehrten, mögliche Märtyrerinnen?

Bei den Mädchen, die das Martyrium der Reinheit erlitten haben, ist es so, dass sie sich aus religiösen Motiven gewehrt haben.

Wie kann man das erkennen?

Aus dem Lebensbild muss hervorgehen, dass die religiöse Dimension da ist. Die rund 40 deutschen Ordensfrauen, die im Martyrologium genannt sind, waren beispielsweise in ihrem Habit und mit Kreuz und Rosenkranz auch für die Rotarmisten als gottgeweihte Jungfrauen zu erkennen.

Welchen kirchlichen Status haben die Personen, die in das Martyrologium aufgenommen wurden?

Sie haben nicht den Status des Märtyrers, denn der ist selig oder heilig. Aber sie sollen dem Vergessen entrissen werden. Ein Hans Wölfel aus Bamberg wäre sicher vergessen worden, oder ein Matthias Kaiser aus Kronach. Und sie sind Vorbilder für ein christliches Zeugnis heute.

Sind sie mögliche Kandidaten für eine Seligsprechung?

Die Bischöfe sollen exemplarisch Personen für die Seligsprechung vorschlagen. Das war auch schon in der alten Kirche so. Exemplarisch steht dann ein Nikolaus Groß für die KAB oder für die Laien, ein Bernhard Lichtenberg für die, die den Juden geholfen haben und Karl Leisner für die Jugend.

Ist für die Seligsprechung von Märtyrern auch ein Wunder erforderlich?

Das Wunder ist nicht notwendig. Dass ein Christ im Martyrium die höchste Form der Christusliebe übt, dass er Stand hält gegenüber den Schmerzen und Verfolgungen, das ist in sich das innere Wunder der Gnade, das er selbst gewirkt hat.

Literaturhinweis

Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Hg. Von Helmut Moll im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz. 2 Bände, Paderborn 1999.

Die Märtyrer des 20. Jahrhunderts aus dem Erzbistum Bamberg. Heft 20 der Schriftenreihe der Pressestelle des Erzbischöflichen Ordinariats


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